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Der Kanton rüstet sich für veränderte Naturgefahren
Brücke, Klosters. Foto: Amt für Natur und Umwelt

Im März 2021 hat der Bund eine Studie zu den Schweizer Gewässern im Klimawandel veröffentlicht. Daraus geht unter anderem hervor, dass Naturgefahren bis Ende des Jahrhunderts häufiger werden. Urban Maissen, Leiter des Amts für Wald und Naturgefahren, erklärt, was das für den Bergkanton Graubünden bedeutet.

Urban Maissen, gemäss der Studie des Bundesamts für Umwelt BAFU werden sich in den nächsten Jahrzehnten Hochwasser, Steinschläge und Murgänge häufen. Muss ich als Bewohnerin einer Berggemeinde in Zukunft um meine Sicherheit bangen?

Urban Maissen: Nein. Bei den prognostizierten Veränderungen handelt es sich um Prozesse, die nicht schlagartig, sondern über eine längere Zeitspanne ablaufen. Dies erlaubt es uns, den Schutz vor Naturgefahren laufend zu erweitern, an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen und bei Bedarf zu optimieren. Wichtig ist jedoch, dass wir uns bereits heute mit möglichen Entwicklungen befassen und erforderliche Massnahmen vorausschauend projektieren und umsetzen. Flexibilität wird also zukünftig gefordert sein.

Wo sehen Sie für Graubünden die grössten Herausforderungen, die im Bereich Naturgefahren vor dem Hintergrund des Klimawandels auf uns zukommen werden?

Urban Maissen: Zahlreiche wissenschaftliche Studien prognostizieren, dass sich das Niederschlagsregime im Alpenraum mit dem Klimawandel entscheidend verändern wird. Es werden mildere Winter erwartet, die Winterniederschläge dürften vermehrt in Form von Regen anstatt von Schnee fallen. Die Sommer dürften trockener und heisser werden. Auch muss davon ausgegangen, dass mit mehr Extremereignissen zu rechnen ist, wie die Intensivniederschläge vom Sommer 2021 andeuteten. 

Bereits in den letzten Jahren wurde deutlich erkennbar, dass durch die steigenden Temperaturen Permafrostböden vermehrt auftauen. Oberhalb von ca. 2300 m ü. M. können dadurch Bauten und Anlagen, aber auch ganze Hänge instabil werden. Drohende Folgeprozesse wie Steinschlag und Murgänge erfordern umfassende Schutzmassnahmen. Als Beispiel kann hier das Schutzbauwerk Giandains in Pontresina genannt werden.

Bei den in höheren Lagen schon heute vermehrt beobachteten Steinschlag- und Felssturzereignissen ist oft auch Schmelzwasser im Spiel, das durch den Klimawandel vermehrt anfällt. In der Folge sind Verkettungen verschiedener Prozesse – wie sie nach dem Bergsturz am Pizzo Cengalo aufgetreten sind – wahrscheinlicher.

Was unternimmt der Kanton, um diesen Herausforderungen zu begegnen?

Urban Maissen: Der Schutz vor Naturgefahren erfolgt im Kanton Graubünden in enger Zusammenarbeit von Kanton und Gemeinden. Mit der konsequenten Umsetzung des integralen Risikomanagements werden Gefahren und Risiken erfasst und bewertet, erkannte Schutzdefizite ermittelt und geeignete Massnahmen zeitnah geplant und umgesetzt. Der Kanton unterstützt die Gemeinden mit Grundlagen, Ausbildung und Beratung, aber die Gemeinden entscheiden, welche Schutzbauten getätigt werden. Schliesslich kommen immer mehr Überwachungs- und Alarmierungssysteme zum Einsatz, die – wie Schutzbauten – von Bund und Kanton subventioniert werden.

Welche Rolle spielt dabei die Forschung?

Urban Maissen:
Um angemessen und zweckmässig auf den Klimawandel zu reagieren, erscheint es mir unabdingbar, eng mit der Forschung zusammenzuarbeiten und einen guten Austausch mit anderen Kantonen zu pflegen, damit wir von gemachten Erfahrungen lernen und profitieren können. Der Kanton Graubünden unterstützt die Forschung zu Naturgefahren, indem er sich beim Aufbau und der längerfristigen Etablierung des Forschungszentrums CERC (CLIMATE CHANGE AND EXTREMES RESEARCH CENTER) am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos finanziell beteiligt. Damit können Probleme und Herausforderungen in alpinen Gebieten in unserem Kanton erforscht werden, und der Austausch von Forschung und Praxis ist sehr eng.

Die Hochwassersituation im Juli hat gezeigt, dass das Wasser bei Starkniederschlägen vielerorts mehr Platz, aber auch mehr Zeit benötigt, bis es die tieferliegenden Gewässer erreicht. Wären Revitalisierungen von Fliessgewässern eine mögliche Lösung für dieses Problem und falls ja, was unternimmt der Kanton in dieser Hinsicht?

Urban Maissen:
Der Bund und auch der Kanton Graubünden sind schon länger darauf bedacht, den Gewässern wieder mehr Platz zuzugestehen. Die Erfahrungen zeigen, dass naturnahe Gewässer bei Hochwasser ausgleichend wirken und auch hinsichtlich Gewässerökologie vielfältige Vorteile aufweisen. Der Kanton Graubünden verfolgt dieses Ziel im Rahmen von Grossprojekten wie der Revitalisierung Inn/Flaz im Oberengadin oder den Aufweitungen bei der Landquart im Vorderprättigau und beim Rhein bei Maienfeld/Bad Ragaz. Aber auch zahlreiche Klein- und Kleinstprojekte werden umgesetzt.

Bei Projekten zum Hochwasserschutz werden zunehmend auch Retentions- und Freiflächen eingeplant, das heisst, Wasser kann bei Überlast in Gebieten abfliessen oder zurückgehalten werden, wo kein grosser Schaden zu erwarten ist. Schliesslich ist auch immer wieder an die Eigenverantwortung der Gebäudeeigentümer zu appellieren, Neubauten möglichst gut den Naturgefahren vor Ort anzupassen und an bestehenden Gebäuden Objektschutzmassnahmen zu treffen.

Mit dem Klimawandel wird die Schneefallgrenze weiter steigen. Bedeutet dies, dass Siedlungsgebiete in Zukunft weniger stark von Lawinen betroffen sein werden?

Urban Maissen: Hierzu eine verlässliche Aussage zu machen, ist mit heutigem Kenntnisstand nicht abschliessend möglich. Wir haben in den letzten Jahrzehnten beobachtet, dass die Lawinenverbauungen hervorragend gewirkt haben. Wenn es nun aber vermehrt regnet statt schneit, bzw. in gewissen Höhenlagen Regen auf eine Schneedecke fällt, sind auch mehr Nassschneelawinen zu erwarten. Die Beurteilung dieser Gefahrensituationen ist sehr schwierig, da das Gemisch von Wasser und Schnee auch zu Erdrutschen führen kann. Um diese Zusammenhänge besser verstehen sowie deren Konsequenzen beurteilen zu können, sind weiterführende Forschungsergebnisse erforderlich.

Auch die Baumgrenze wird infolge der höheren Lufttemperaturen weiter ansteigen und die Waldfläche dürfte sich entsprechend vergrössern. Inwiefern wird das die Schutzwirkung des Waldes beeinflussen?

Urban Maissen: Mit der ansteigenden Baumgrenze aufgrund der Temperatur wird sich mancherorts auch die Waldgrenze nach oben verschieben. Als Waldgrenze wird die Höhe bezeichnet, bis zu welcher sich ein geschlossener Wald etablieren und erhalten kann. Neben der Durchschnittstemperatur spielen aber viele weitere Faktoren eine Rolle bei der Ausbildung dieser Waldgrenze. In der Schweiz liegt die Waldgrenze heute in den allermeisten Regionen deutlich tiefer, als dies aus klimatischen Gründen möglich wäre. Der Grund dafür liegt in der Nutzung dieser Gebiete durch die Alpwirtschaft. Bei der Verschiebung der Waldgrenze ist nach heutigem Wissen die Klimaveränderung somit nicht der alleinige treibende Faktor. Innerhalb des heutigen Waldareals sind die Veränderungen aber schon jetzt erkennbar. Da alle Baumarten auf eine bestimmte Bandbreite eines Temperatur- und Niederschlagsbereichs angepasst sind und sich Temperatur sowie saisonale Niederschläge verschieben, stehen gewisse Baumarten bereits heute an Standorten, an denen sich die Wuchsbedingungen für sie verschlechtern. Dies äussert sich beispielsweise in einer verminderten Vitalität, die wiederum Schädlinge begünstigt und Bäume zum Absterben bringen kann. Auch drängen Baumarten neu in Gebiete vor, in denen sie gegenüber den angestammten Baumarten Konkurrenzvorteile haben, sei es etwa durch eine höhere Trockenheitstoleranz oder durch eine Resistenz gegenüber artspezifischen Schadorganismen. Damit die Schutzwirkung des Waldes erhalten bleibt, ist somit an Orten mit erwarteten Veränderungen frühzeitig unterstützend einzugreifen, damit sich der Wald und die Baumartenzusammensetzung in die erhoffte Richtung entwickeln können. Dies hilft mit, ein vorübergehendes Schutzdefizit zu verringern oder bestenfalls zu verhindern.

Gibt es Chancen, die sich im Bereich Naturgefahren aus dem Klimawandel ergeben könnten?

Urban Maissen: Aus heutiger Sicht überwiegen die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Ich möchte jedoch nicht ausschliessen, dass sich Gegebenheiten, die wir heute als Risiko einstufen, im Nachhinein als Chance herausstellen. Ich denke zum Beispiel auch an die zunehmenden Hitzetage in den Städten des Mittellandes als Folge der Klimaerwärmung, was zu vermehrten Ferienaufenthalten in den Bündner Bergtälern führen könnte.

Wie unterstützt der Kanton die Gemeinden im Umgang mit den erwarteten Veränderungen der Naturgefahren?

Urban Maissen: Der Kanton Graubünden arbeitet beim Umgang mit Naturgefahren sehr eng mit den Gemeinden zusammen. Die Zusammenarbeit erstreckt sich von der Ereignisdokumentation über die Erarbeitung von Gefahren- und Risikoanalysen bis hin zur Planung und Umsetzung von Schutz- und organisatorischen Massnahmen. Diese enge Zusammenarbeit erlaubt es auch, die jeweils neusten Erkenntnisse aus der Forschung oder aus dem Erfahrungsaustausch mit anderen Kantonen in die jeweiligen Projekte einfliessen zu lassen.

Als Beispiele möchte ich hier die lokalen Naturgefahrenberaterinnen und -berater (LNB) und die Notfallplanungen Naturgefahren nennen. Die Gemeinden können die Ausbildung von LNBs beim Kanton beantragen. Mittlerweile haben fast alle Bündner Gemeinden einen LNB in ihren Gemeindeführungsstab integriert, oder die Ausbildung eines LNBs ist für die nahe Zukunft geplant. Neue Erkenntnisse und Methoden beim Umgang mit Naturgefahren werden in die Ausbildung der LNB eingebaut, sodass dieses Wissen durch den LNB auch in die jeweiligen Gemeinden getragen wird und zum Beispiel bei der Umsetzung von Notfallplanungen angewandt werden kann. Die Erstellung von Notfallplanungen Naturgefahren wird vom Kanton ebenfalls unterstützt.

Was können wir als Einzelpersonen dazu beitragen, damit wir in Bezug auf Naturgefahren sicherer in die Zukunft gehen?

Urban Maissen: Zentral erscheint mir die Sensibilisierung jedes/jeder Einzelnen. Wenn die Bevölkerung die Gefährdungssituation und die verfügbaren Hilfsmittel kennt und nicht zuletzt Natur und Wetter beobachtet, passt sie auch ihr Verhalten und ihr Handeln entsprechend an. So können wir einerseits ein vorausschauendes Planen fördern (z.B. Objektschutz), aber auch ein risikobasiertes Handeln jedes/jeder Einzelnen stärken (z.B. kein Aufenthalt an Gewässern bei Hochwasser). In Graubünden ist hierzu bereits ein grosses Verständnis vorhanden.

Urban Maissen, besten Dank für das Gespräch!